Inwieweit bist du in einer Beziehung dazu bereit, deine Autonomie zugunsten des Miteinanders einzuschränken? Und inwieweit bist du dazu in der Lage, seelisch eigenständig zu bleiben, wenn du dich in einer Bindung befindest?
Die Antworten auf diese beiden Fragen sind für jeden von uns von besonderer Bedeutung, da sie zwei unserer tiefsten seelischen Grundbedürfnisse berühren: das Bedürfnis nach Aufrechterhaltung der seelischen Eigenständigkeit und das Bedürfnis nach Bindung und Zugehörigkeit.
Im Idealfall gelingt es uns, diese beiden Bedürfnisse in Einklang zu bringen. Für viele Menschen stellen diese Polaritäten jedoch unvereinbare Gegensätze dar, was zu enormen Problemen in ihren Beziehungen führen kann.
Konflikte, die mit diesem Themenkreis zu tun haben, drehen sich dabei um Polaritäten wie:
Bindung versus Autonomie
Emotionale Verschmelzung versus Eigenständigkeit
Gemeinsamkeit versus Individualität
Nähe versus Distanz
Wir versus Ich
Eingeschränkt sein versus frei sein, etc.
Ein Beispiel für ein Problem in diesem Bereich ist meine Klientin Susanne. Susanne ist eine selbstbewusste und beruflich erfolgreiche ca. 45 Jahre alte Frau, die durchaus in der Lage ist, die Anforderungen ihres Lebens zu meistern. Sie hat eine schöne Wohnung, einen Beruf, der ihr ein gutes Einkommen beschert, sie hat Hobbys und Freunde und ist im Großen und Ganzen recht zufrieden. Was ihr jedoch fehlt, ist eine glückliche Paarbeziehung, die sie sich schon seit langem wünscht.
Leider hat dieser Beziehungswunsch aber einen Haken. Denn sobald sie mit einem Mann zusammenkommt, verliert sie irgendwie ihre Eigenständigkeit und wird emotional davon abhängig, wie sich ihr Partner jeweils verhält. Dann reagiert sie wie ein Seismograph auf jedes seiner Worte und all seine Handlungen und scannt diese nach potenziellen Zurückweisungen oder Desinteresse an ihr. Und wenn sie dann den Eindruck gewinnt, dass er sie nicht wirklich liebt, bricht in ihrer Seele eine Art inneres Chaos aus. Dann ist von ihrem Selbstbewusstsein plötzlich nichts mehr übrig und sie leidet innere Qualen, bis sie seinen Worten oder Handlungen wieder positive Signale entnehmen kann, woraufhin sie sich wieder beruhigt. Natürlich spricht sie ihn auf sein Verhalten auch an und sagt ihm, was er ihr damit antut. Doch führen ihre Vorwürfe früher oder später immer dazu, dass sich die Situation verschlimmert.
So kam es bisher stets schon recht bald zu einer Trennung, woraufhin sie eine Weile lang litt und dann wieder zu der selbstbewussten Frau wurde, die sie vor der Beziehung war.
Wenn wir Susannes Dilemma betrachten, dann lautet dieses etwa folgendermaßen. Entweder (1) ich lebe alleine und bin einigermaßen ausgeglichen, fühle mich dabei aber öfters einsam; oder aber (2) ich lebe in einer Beziehung, erlebe dabei aber immer wieder seelische Achterbahnfahrten, da ich seelisch von meinem Partner bzw. meiner Partnerin abhängig bin.
Beide Varianten sind für Susanne jedoch letztlich frustrierend.
Betrachten wir nun einmal, was mit Susanne passiert, wenn sie sich in eine Beziehung begibt.
Aus psychologischer Sicht verschmilzt Susanne emotional mit ihrem Partner und regelt ihr seelisches Gleichgewicht anhand des Ausmaßes an positiver Zuwendung, das sie von ihm erhält. Dadurch ist sie allerdings davon abhängig, dass ihr Partner ihr Selbstempfinden auch beständig positiv spiegelt. Tut er das nicht, fällt sie in ein schwarzes Loch. Aus irgendeinem Grund fehlt Susanne also ein stabiles Selbstempfinden bzw. die Fähigkeit, auch ohne die Rückmeldung durch andere zu wissen, dass sie eine kompetente und liebenswerte Frau ist.
Natürlich müssen wir anerkennen, dass unser Identitätsgefühl und Selbstempfinden immer von anderen Menschen beeinflusst werden. Aber dennoch gibt es viele, die in ihrer Entwicklung nie über das Stadium eines gespiegelten Selbstempfindens hinauskommen. Dies bedeutet, dass sie sich nur dann attraktiv fühlen, wenn andere sie für attraktiv halten. Sie leben also von geborgter psychischer Energie. Der Preis dafür ist, dass sie sich schlecht fühlen, wenn die anderen sie nicht positiv sehen, – genau wie Susanne.
Dummerweise kann uns aber kein Lob der Welt ein stabiles Selbstwertgefühl bescheren. Ein stabiles Selbstempfinden entsteht vielmehr dadurch, dass wir ein werteorientiertes Leben führen. Verhalten wir uns dann im Einklang mit unseren Werten, lernen wir mit der Zeit uns selbst zu respektieren. Ein stabiles Selbstempfinden entsteht also aus uns selbst heraus und nicht dadurch, dass wir das Lob der anderen verinnerlichen.
Aber auch wenn wir über ein stabiles Selbstempfinden verfügen, ist ein gewisses Ausmaß an emotionaler Verschmelzung in einer Liebesbeziehung normal. Problematisch wird das Ganze jedoch dann, wenn wir für die Aufrechterhaltung unseres emotionalen Gleichgewichts zu stark voneinander abhängig werden. Wenn unser positives Selbstempfinden davon abhängt, dass wir vom Partner ständig positive Rückmeldungen erhalten, haben wir gar keine andere Möglichkeit mehr, als an ihm bzw. ihr zu kleben. Wir brauchen dann die ständige Rückmeldung, toll zu sein und ertragen es nicht, ignoriert oder kritisiert zu werden. Treten unsere Mängel dann zu deutlich hervor, zerbricht unser Selbstbild und wir erleiden einen emotionalen Zusammenbruch, für den wir unseren Partner bzw. unsere Partnerin verantwortlich machen.
Wenn wir in unserem Selbstempfinden von positiver Spiegelung abhängig sind, werden wir somit auf jeden Fall versuchen, unseren Partner bzw. unsere Partnerin zu kontrollieren. Schließlich wollen ja nicht die Droge verlieren, die unsere emotionale Versorgung sicherstellt.
Wie oben bereits erwähnt, können wir stattdessen aber auch ein Selbstgefühl entwickeln, das von der Anerkennung durch andere unabhängig ist und auch im Angesicht von Herausforderungen und Widrigkeiten widerstandsfähig bleibt. Ein solches entsteht durch die Entwicklung einer adäquaten Identität, eines intrinsischen Selbstwertgefühls und dauerhafter Wert- und Zielvorstellungen.
Nun ist es so, dass eine stabile und flexible Persönlichkeit damit einhergeht, dass man weiß, wer man ist, was man will, was einem wichtig ist und damit, den eigenen Zielen und Werten treu zu bleiben.
Allerdings gibt es hierbei noch ein Problem. Man kann nämlich durchaus wissen, wer man ist, zudem hohe Werte und die besten Absichten haben und trotzdem aufgrund von Ängsten wichtige Handlungen vermeiden oder impulsiv handeln und damit den eigenen Idealen und Zielen zuwiderhandeln. Dadurch schadet man aber gleichzeitig der eigenen Integrität und dem eigenen Selbstwertgefühl. Um dieses Problem zu vermeiden, muss man aber wissen, wie man seine Ängste überwinden bzw. sich selbst in Stresssituationen beruhigen kann.
An dieser Stelle können uns dann die Psychointegrationsmethoden wie PEAT, Aspectics oder das Integra Protokoll wertvolle Dienste leisten. Denn mit ihrer Hilfe können wir unsere Ängste jederzeit reduzieren und oft sogar völlig auflösen.
Übung:
Wenn es dir so ergeht wie Susanne in obigem Beispiel, sprich, wenn du in deinen engen Paarbeziehungen übermäßig abhängig von der positiven Spiegelung durch deinen Partner bzw. deine Partnerin wirst, – und falls du dies ändern möchtest, dann erstelle folgende 3 Listen.
Liste 1: Wer bin ich? In diese Liste schreibe einmal alle deine Stärken und Schwächen und alles, was dich deiner Meinung nach charakterisiert und in deiner Persönlichkeit ausmacht.
Liste 2: Was sind meine Werte? Was ist mir wirklich wichtig? Wie möchte ich sein? In diese Liste schreibe nun all deine Werte bzw. die Werte, die du gerne verkörpern würdest. Bleibe dabei realistisch aber durchaus optimistisch.
Liste 3: Was sind meine Ziele im Leben? In diese Liste schreibe die Ziele, die du in deinem Leben in den verschiedenen Bereichen wie Beruf, Karriere, Liebe, Partnerschaft, Familie, Hobbys, Gesundheit, Sport etc. gerne erreichen möchtest.
Mache dir beim Erstellen dieser Listen nicht zu viel Druck. Es geht dabei nicht um Perfektionismus, sondern eine Bewusstmachung und innere Ausrichtung. Hierdurch stärkst du deine Identität.
Nachdem du diese Listen erstellt hast, triff eine klare Entscheidung, dich in Zukunft so gut du kannst gemäß deiner Werte und Ziele zu verhalten.
Dann nimm dir nun einen Wert aus deiner Werte-Liste vor und übe diesen in den nächsten Wochen, bis er dir in Fleisch und Blut übergegangen ist. Wenn du z.B. Freundlichkeit als hohen Wert für dich definiert hast, dann achte ab jetzt für einige Zeit jeden Tag darauf, bewusst freundlich zu anderen zu sein. Überlege dir, wie sich ein freundlicher Mensch deiner Meinung nach verhält und verhalte dich genauso.
Sobald du einen Wert auf diese Weise verinnerlicht hast, übe den nächsten ein, bis auch er zu einem festen Bestandteil deiner Persönlichkeit geworden ist. Fahre dann mit allen Werten deiner Liste auf gleiche Weise fort.
Falls du beim Üben feststellst, dass dir die Umsetzung eines Wertes nicht gelingt, weil du diesbezüglich Hemmungen oder Ängste hast, wende Methoden wie PEAT an, um deine Ängste zu lindern und traue dich, das Richtige zu tun, auch wenn du noch etwas Ängstlichkeit und Unsicherheit spüren solltest. Als zusätzliche Hilfe kannst du auch noch den Indiana Jones Prozess anwenden, da er dir bei der Umsetzung von bisher ungewohnten Eigenschaften wie Mut, Optimismus etc. hilft.
Zuletzt nimm dir noch einmal jeden deiner Werte vor und integriere nun sein Gegenteil. Wenn du z.B. Toleranz als wichtigen Wert für dich entdeckt hast, dann übe dich in Toleranz, integriere aber auch Intoleranz. Dies ist ein oft vernachlässigter aber wichtiger Schritt. Wenn du nämlich nur eine Seite einer Polarität integrierst, läufst du Gefahr, dein Empfinden zu verdrängen, gegen dein Naturell zu handeln und deinen Entwicklungsstand zu ignorieren. Dann lebst du rein aus der Vorstellung von dir, ein guter, erfolgreicher, mutiger, toleranter oder sonst was für ein Mensch zu sein, der du aber eigentlich gar nicht bist. Dann verdrängst du alles was dir an dir nicht gefällt in dein Unterbewusstsein, wo sich immer mehr Verdrängtes ansammelt und dann allerlei Symptome und Probleme erzeugt.
Wenn du deine Werte und deren Gegenteil gemeinsam integrierst, wirst du deine Werte stattdessen auf die dir bestmögliche Weise auszudrücken lernen, aber du wirst weder Angst vor dem Gegenteil haben noch dein Empfinden deswegen verdrängen.
Als Beispiel hierfür möchte ich den Wert “Toleranz” aufgreifen. Ich hatte vor Kurzem eine Klientin, die unbedingt als tolerante Person gesehen werden wollte. Dann lernte sie einen Mann kennen und ging mit ihm eine Liebesbeziehung ein. Er konfrontierte sie mit der Forderung, bestimmte sexuelle Praktiken, Partnertausch und flotte Dreier auszuführen, was ihr sofort zutiefst unheimlich war. Er appellierte aber an ihre Toleranz und da sie unbedingt tolerant sein und ihm gefallen wollte, ließ sie sich schließlich auf seine Wünsche ein. Die Folge waren dann traumatische Erfahrungen, tiefe Verletzungen ihrer Integrität, ein Absturz in exzessiven Alkoholmissbrauch (um das Ganze ertragen zu können) und dann die Trennung von ihrem Freund. Hätte sie im Vorfeld auch das Thema “Intoleranz” integriert, hätte sie mit Sicherheit leichter auf ihre innere Stimme hören und die Grenzen ihrer Toleranz durch ein klares “Nein” formulieren können.
Falls du dich auf deinem Weg in größere seelische Eigenständigkeit unterstützen und coachen lassen möchtest, stehe ich dir gerne dabei zur Verfügung.
Ganz liebe Grüße aus München,
Michael